Das stille Chaos: Warum Long COVID Licht und Geräusche zur Qual machen kann

 

Stellen Sie sich vor, die Welt um Sie herum wird plötzlich unerträglich. Ein flackerndes Licht bringt Ihr Inneres aus dem Gleichgewicht, und das Klappern von Geschirr fühlt sich an wie ein Donnerschlag. Für viele Menschen mit Long COVID ist das keine Fantasie, sondern tägliche Realität. Doch was steckt dahinter?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir in die Tiefen unseres Gehirns reisen – genauer gesagt in das Mittelhirn, einen faszinierenden und komplexen Bereich, der mehr über unsere Empfindlichkeit gegenüber Licht und Geräuschen verrät, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Das Mittelhirn: Ein Hügel der Wahrnehmung

Das Mittelhirn ist der Dirigent, der die Sinfonie unserer Sinneswahrnehmungen lenkt. Zwei Strukturen spielen dabei eine Hauptrolle:

  1. Der Colliculus superior – der „Obere Hügel“. Wie ein aufmerksamer Wächter analysiert er visuelle Reize. Eine Bewegung im Augenwinkel? Ein plötzlicher Lichtblitz? Er sorgt dafür, dass Ihre Augen blitzschnell reagieren.
  2. Der Colliculus inferior – der „Untere Hügel“. Dieser kleine Meister regelt, wie wir Geräusche wahrnehmen und lokalisieren. Ein knarrender Stuhl oder ein vorbeifahrendes Auto? Der Colliculus inferior ist dafür verantwortlich, dass wir diese Geräusche deuten können.

Doch was passiert, wenn diese beiden Akteure aus dem Takt geraten?

Wenn das Gehirn in den Überlebensmodus schaltet

Unser Gehirn ist ein hochsensibles Organ, das auf eine konstante Versorgung mit Sauerstoff und Glukose angewiesen ist. Doch eine COVID-19-Infektion – und erst recht Long COVID – kann diesen Energiefluss erheblich stören. In einem verzweifelten Überlebenskampf werden die betroffenen Neuronen hyperaktiv. Plötzlich werden harmlose Reize wie Licht oder Geräusche zu einer überwältigenden Belastung.

Manche Forscher vermuten, dass diese Dysfunktion mit einer beeinträchtigten Durchblutung und einem gestörten Glukosestoffwechsel im Gehirn zusammenhängt – ein Zustand, der besonders die empfindlichen Colliculi trifft.

Das Domino im Kopf: Transneuronale Degeneration

Doch damit nicht genug. Eine Verletzung oder Fehlfunktion im Gehirn bleibt selten isoliert. Das Prinzip der transneuronalen Degeneration beschreibt, wie der Schaden von einer betroffenen Hirnregion auf andere übergreifen kann – ein Dominoeffekt, der die Empfindlichkeit noch verstärkt und weitere Symptome hervorruft.

Lichtblick: Die Plastizität des Gehirns

Das Gehirn mag empfindlich sein, aber es hat auch eine bemerkenswerte Fähigkeit: Es kann sich verändern, reparieren und neu organisieren. Diese Eigenschaft nennt man Neuroplastizität. Doch wie jede Medaille hat auch die Neuroplastizität zwei Seiten. Sie kann die Symptome verschlimmern – oder den Weg zur Heilung ebnen.

Damit Regeneration möglich wird, müssen die richtigen Reize gesetzt werden. Doch Vorsicht: Eine Überstimulation kann bei Menschen mit Licht- und Geräuschempfindlichkeit kontraproduktiv wirken. Hier kommt die Wissenschaft der gezielten Stimulation ins Spiel.

Training für das Gehirn: Die richtigen Reize setzen

Mit den Prinzipien der Neuroplastizität lässt sich das Gehirn sanft zurück in die Balance führen. Atemübungen, leichte visuelle Stimulation, Farblicht, spezielle Brillen und andere neurozentrierte Techniken können gezielt eingesetzt werden – immer angepasst an die individuelle Toleranz.

Doch das ist ein Prozess, der Geduld erfordert. Oft dauert es mindestens sechs Wochen, bevor spürbare Verbesserungen eintreten. Variationen in der Herangehensweise sind entscheidend, um das Training interessant und gleichzeitig schonend zu gestalten.

Ein Weg zurück: Ihre Optionen

Wenn Sie unter Licht- und Geräuschempfindlichkeit leiden, sollten Sie die Unterstützung eines erfahrenen Trainers oder Therapeuten in Betracht ziehen. Eine 1:1-Online-Konsultation oder die Teilnahme an einem strukturierten Long COVID-Gruppentraining über mehrere Wochen kann Ihnen helfen, den richtigen Weg für Ihre Genesung zu finden.

Das Gehirn hat das Potenzial, sich zu verändern – in beide Richtungen. Die Frage ist: Welche Richtung wollen Sie wählen? Mit dem Wissen um die Gesetze der Neuroplastizität und einer gezielten Herangehensweise ist Heilung möglich. Sie können die Kontrolle zurückgewinnen – Schritt für Schritt, Reiz für Reiz.

 

Literatur und Quellenangaben:

  1. Studien zur Funktionsweise des Superior Colliculus:

    • "Glossar der Neuroanatomie" von MC Hirsch, 2013. 
    • "In-vivo-Konnektivität der menschlichen Colliculi superiores gemessen mit Resting-State fMRT" von F Bender, 2017. 
  2. Studien zur Funktionsweise des Inferior Colliculus:

    • "Inhibitorische und exzitatorische Neurone des Colliculus inferior der Maus: Ih-Ströme und erregende Eingänge" von V Naumov, 2022. 
    • "Chronische intracochleäre Elektrostimulation und ihr Einfluss auf das auditorische System" von S Jansen, 2017. 
  3. Studien zur Transneuronalen Degeneration:

    • "Sekundäre, retrograde und transsynaptische Degeneration." von H Jacob-Hamburg, 2013. 
    • "Beeinträchtigung der Sehbahn bei Glaukomen" von MA Schmidt, T Engelhorn, A Dörfler, G Michelson. 
  4. Studien zu verringertem Sauerstoff- und Glukosestoffwechsel im Gehirn im Kontext von COVID-19:

    • "Praxisbuch Interdisziplinäre Intensivmedizin" von W Abdulla, S Vogt, 2021. 
    • "Differenzialdiagnostik Müdigkeit" von EC Schmid, 2021. 

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